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Nachruf auf Paul Auster: Der Experte für Zufall ist tot

Paul Auster ist am Dienstag an den Folgen einer Krebserkrankung im Alter von 77 Jahren in New York gestorben.

Paul Auster (1947–2024).
Paul Auster (1947–2024).

Weil der Zufall eine so große Rolle in seinem Leben spielte, baute Paul Auster ihn als dramaturgisches Element in seine Bücher ein. In "Das rote Notizbuch" (1995) versammelt er Episoden aus seinem Leben, die davon Rechenschaft ablegen, dass nichts, was geschieht, notwendig ist. Eine Offenheit zeichnet diese Haltung aus, die - am Soziologen Niklas Luhmann geschult - davon ausgeht, dass jede Biografie unter dem Zeichen der Ungewissheit steht. Vier Mal, erzählte Auster, habe er eine Reifenpanne gehabt, jedes Mal sei der gleiche Freund am Beifahrersitz gesessen. Prägend war das Erlebnis des jungen Paul Auster in einem Ferienlager. Als ein Gewitter aufzog, liefen alle Kinder zurück zu ihrer Sammelstelle. Ein Bub, der unter einem Stacheldrahtzaun durchkroch, wurde von einem Blitz erschlagen. Eigentlich hätte es ihn erwischen können, sagte der Erwachsene später, es sei Zufall, dass er lebe, das andere Kind nicht.

In seinem Roman "4 3 2 1" (2017) erhebt er die Idee des Zufalls zum künstlerischen Prinzip. Im Mittelpunkt steht Archie Ferguson, dessen Leben in vier Versionen erzählt wird. Die Figur, einen Monat älter als der Verfasser, teilt einige von dessen Lebensumständen. Ein Mensch entwickelt sich unter jeweils verschiedenen äußeren Umständen anders. Der Gedanke, wie für jemanden "alles anders sein könnte, auch wenn er selbst immer derselbe bliebe", leitet den Roman. So schlägt Ferguson einmal den Weg des bürgerlichen Aufstiegs ein, ein anderes Mal scheitert er, weil er im Konflikt mit seiner Umwelt zerrieben wird, im dritten Fall läuft vieles schief, bis sich ein Außenseiter zu konsolidieren beginnt, in der vierten Version sehen wir einen, der sich selbst als "Held seines eigenen Lebens" sieht und Schriftsteller wird. Ein Leben ist das Ergebnis von Möglichkeiten und Entscheidungen, vorbestimmt ist nichts.

Im Alter von vierzig Jahren schaffte Auster den Durchbruch mit der "New-York-Trilogie". Damit wurde er zu einer herausragenden Gestalt der postmodernen Literatur, die in den achtziger Jahren einen Neuansatz wagte: ein Spiel mit Wirklichkeit und Fiktion. Die Großstadt bei Auster gibt keinen festen Rahmen mehr wie im klassisch realistischen Roman. Zeichen von Verfall und Auflösung finden sich überall. Das betrifft auch die Figuren, die sich damit abfinden müssen, einer klaren Identität verlustig gegangen zu sein. Das sieht man am ersten Teil der Trilogie, "Stadt aus Glas", in dem der Schriftsteller Daniel Quinn, spezialisiert auf Detektivromane, mit einem Privatdetektiv verwechselt wird, der Paul Auster heißt. Er nimmt den Auftrag an, einen dubiosen Religionsforscher zu observieren, und geht allmählich seiner Sicherheiten verloren. Was bleibt ihm? Ein rotes Notizbuch.

Zur postmodernen Literatur gehören Anspielungen und Verweise, Motive werden variiert, Plausibilität ist nicht zwingend. Die Tradition des Absurden schlägt immer wieder durch. Das macht das Werk Paul Austers so reich: Man kann daraus spannende Geschichte ziehen, zugleich vermittelt die Lektüre eine Fülle von Motiven aus amerikanischer und europäischer Kultur.

Politisch hat sich Paul Auster positioniert. Mit Trump rechnet er scharf ab: "Ich ertrage den Mann nicht", sagte er. "Er hat ein Vokabular von 16 Wörtern, sagt jeden Satz doppelt und jeder ist gelogen."

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