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Forscher brachten awarische Beziehungsgeflechte ans Tageslicht

Schwager- und Mehr-Frauen-Ehe, väterliche Erblinie und ein kleiner "genetischer Ruck" am Ende der Awarenzeit in Europa: ÖAW-Wissenschafter erforschte Gräberfelder im heutigen Ungarn.

Ein Awaren-Grab; konkret eine Bestattung mit einem Pferd in Rákóczifalva, Ungarn (8. Jahrhundert n. Chr.).
Ein Awaren-Grab; konkret eine Bestattung mit einem Pferd in Rákóczifalva, Ungarn (8. Jahrhundert n. Chr.).

Die Awaren waren asiatische Nomaden, die im Frühmittelalter Osteuropa bis ins Wiener Becken beherrschten. Erbgut-Analysen bei 424 Awaren- und Awarinnenskeletten aus vier Gräberfeldern brachten nun ihre Beziehungsgeflechte ans Tageslicht: Awarenmänner hatten teils mehrere Frauen, die nach der Eheschließung zu ihnen zogen, und Witwen wurden mit Brüdern der Verschiedenen vermählt. Das berichtet ein Team um den Wiener Mittelalterforscher Walter Pohl im Fachmagazin "Nature".

Für diese Studie wurden alle verfügbaren Skelette in vier komplett ausgegrabenen Gräberfeldern im heutigen Ungarn untersucht, erklärte Pohl, der am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien arbeitet, in einer Aussendung. Dort waren Awaren von bis zu neun hintereinander folgenden Generationen begraben. "Das Steppenvolk ist im sechsten Jahrhundert aus Zentralasien nach Europa gekommen und hat die Region 250 Jahre beherrscht", so der Wissenschafter.

"Die Gräber sind sehr ordentlich angelegt und in Ost-West-Richtung ausgerichtet", sagte Pohl im Gespräch mit der APA. Manche Gruppen wurden eng beisammen bestattet. Oft handelte es sich dann um nahe Verwandte, wie sich herausstellte, zum Beispiel Eltern und ihre Kinder oder erwachsene männliche Geschwister. Die Awaren hatten sich also gut gemerkt, wer wo begraben war, und es passierte auch selten, dass sich Grabstellen überschnitten.

Das Forscherteam erstellte Familienstammbäume anhand des Erbguts in den Skelettüberresten. Sie decken den gesamten Zeitraum der Awarenherrschaft in Europa ab und verraten mit den archäologischen, anthropologischen (Anthropologie ist die Wissenschaft über die Menschen, Anm.) und historischen Befunden viel über die Lebensweise, Familienbeziehungen und das Verhältnis zwischen Männern und Frauen bei den Awaren, erklärte Pohl.

"Es finden sich zum Beispiel genetische Hinweise darauf, dass Frauen regelmäßig Kinder von mehreren miteinander verwandten Männern bekommen haben", so der Forscher. Das bedeutet in der Regel, dass eine Witwe eine Partnerschaft mit einem Bruder oder anderem nahen Verwandten ihres verstorbenen Mannes eingeht. Man nennt dies "Leviratsehe" (Levir ist das lateinische Wort für Schwager). "Wir haben dann Belegstellen für diese Praxis in chinesischen Quellen aus dieser Zeit gefunden", so Pohl.

Neben dieser "seriellen Monogamie" gab es wohl auch "Polygynie", also dass ein Mann mehrere Partnerinnen gleichzeitig hatte. "Sie war wohl nicht nur den höheren Schichten der Gesellschaft vorbehalten, wie dies in historischen Quellen überliefert ist, sondern kam auch in der breiten Bevölkerung vor", schrieben die Wissenschafter im Fachjournal.

Die Eltern der Frauen waren in der Regel nicht auf denselben Gräberfeldern begraben. Dies bedeutet, dass Frauen wohl stets "zugeheiratet" waren. Die Männer sind demnach nach der Hochzeit in ihren Gemeinschaften verblieben (und wurden über mehrere Generationen hinweg am gleichen Ort begraben), während die Frauen ihretwegen ihre Familien verlassen haben. Gemeinschaften mit solchen Gepflogenheiten nennen die Anthropologen "strikt patrilineal", also stur der väterlichen Erblinie folgend.

In Europa sind die Steppennomaden aus Asien laut der Studie bald sesshaft geworden. In den ersten beiden Generationen gab es laut den Gräberfeld-Befunden wohl noch eine gewisse Mobilität, aber im Laufe des siebenten Jahrhunderts bildeten sich "richtig stabile große Gräberfelder", erklärte Pohl: "Vielleicht war es zunächst noch so, dass die Menschen in einer gewissen Gegend mit ihren Herden herumzogen, aber schon einen festen Friedhof hatten, wo sie ihre Toten bestatteten". Irgendwann endete dann aber diese lokale Bewegung, und die Menschen wohnten in festen Siedlungen.

Am Ende des siebenten Jahrhunderts änderte sich laut Archäologen die Kultur der Awaren ein wenig. "Charakteristisch für die darauffolgende Zeit sind Gürtel mit mehrteiligen Beschlägen aus Bronze, die Schmuckmotive zeigen", so Pohl. Sie wurden vielen Männern in die letzte Ruhestatt mitgegeben. Zu dieser Zeit gab es in den Gräberfeldern auch einen "kleinen genetischen Ruck". Die Individuen waren auf einmal nicht mehr so eng mit den früher Begrabenen verwandt, aber genetisch nicht so weit entfernt, dass sie etwa neu aus Asien zugereist hätten sein könnten. Es gab demnach am ehesten innere Unruhen und Auseinandersetzungen, wodurch eine neue Dynastie an die Macht kam und ihre Anhänger im Lande verteilte, meinte Pohl.

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